Von den Eltern im Stich gelassen

Camila wurde in das Sozialbegleitungsprojekt der Stiftung Presencia aufgenommen, als sie drei Jahre alt war. Während ihrer ganzen Kindheit wurde sie von den Eltern vernachlässigt. Heute ist die 17-Jährige im letzten Schuljahr und bereitet sich auf die Berufswahl vor.

Als Camila zur Welt kam, war ihre Mutter 16 Jahre alt. Camila war ihr zweites Kind, zwei Jahre zuvor hatte sie bereits Brayan geboren. Ihre Kindheit verbrachte Camila im Armenviertel ‹El Limonar›. Meist war nur ihr Bruder da – Mutter und Vater kümmerten sich nicht um ihre Kinder. Beide waren drogenabhängig. Der Vater seit seinem 13. Lebensjahr, in seiner Familie war Drogenkonsum an der Tagesordnung. Die Mutter begann mit den Drogen kurz nach Brayans Geburt. Beide konsumierten täglich, Kokain, Alkohol, Marihuana.

«Meine Eltern verschwanden jeweils, ohne jemanden zu organisieren, der sich um uns kümmerte. Tagsüber lebten wir wie Strassenkinder. Am Abend kam Grossmutter von der Arbeit zurück und versorgte uns mit dem Nötigsten. Sie musste hart arbeiten, um uns über Wasser zu halten: Meinen Bruder, meine Eltern und mich, meine alleinerziehende Tante Monika und ihre vier Kinder. Wir alle lebten in Grossmutters Haus. Monika konnte nur wenig Geld verdienen, da sie auf ihre Kinder aufpassen musste. Manchmal suchte sie am zentralen Markplatz von Medellín nach Esswaren, die nicht mehr verkauft werden konnten. Die Einkünfte von Grossmutter und Tante reichten nie für alle.»  

Maria Camila SRF Beitrag

Enge Wohnverhältnisse und die Konsequenzen

Camilas Eltern waren in sehr armen Verhältnissen aufgewachsen. Der Vater hatte mit elf die Schule verlassen, weil er fortan Geld verdienen musste. Er bot in den Bussen von Medellín Süsswaren an. Camilas Mutter wuchs ohne Aufsicht auf: Ihre alleinerziehende Mutter – Camilas Grossmutter – hatte auf den Strassen Medellíns Kaffee verkauft, um ihre fünf Kinder durchzubringen.

«Meine Eltern blieben oft tagelang, manchmal sogar mehrere Wochen weg. Auf der Suche nach ihren Drogen gingen sie ins Stadtzentrum von Medellín. Hier leben die Obdachlosen und Süchtigen auf offener Strasse und schlafen unter Brücken, in Parks und am Strassenrand. Wer dort landet, kann nicht mehr tiefer fallen. Wenn meine Eltern von ihren Streifzügen in der Drogenszene zurückkamen, waren sie völlig heruntergekommen, ihre Kleider waren schmutzig und sie stanken.»

Grossmutters Haus war klein – ein einziges Zimmer, ein Vorraum und eine kleine Küche. Der Platz reichte nicht für alle. Deshalb stellte Camilas Vater auf dem Dach einen kleinen Holzverschlag auf.

«Dort schliefen wir, Mutter, Vater, Brayan und ich. Es war eng und unter der Wellblechüberdachung drückend heiss. Wenn meine Eltern zuhause waren, stritten sie sich ständig und heftig. Mutter war aufbrausend und jähzornig. In ihrer Wut schlug sie mit jedem Gegenstand, der ihr in die Finger kam, um sich. Sie ging auch auf meinen Bruder und mich los. Ich fürchtete mich sehr vor ihr. Ich erinnere mich noch an den Tag, als sie mich so heftig beschimpfte, dass ich aus Angst vor ihr in die Hosen machte. Das machte sie noch wütender, sie riss mich an den Haaren hoch zu unserem Verschlag und wollte mich vom Dach stossen. Hätte Tante Monika nicht eingegriffen, wäre ich heute möglicherweise nicht mehr da.» 

«Meine Eltern blieben oft tagelang, manchmal sogar mehrere Wochen weg.»

Als Camila sechsjährig war, trennte sich der Vater von der Mutter. 
Die Mutter reagierte heftig. Sie verschwand aus dem Quartier, mit Camila. Im Stadtzentrum hausten die beiden in einem heruntergekommenen Gebäude, das von Süchtigen und Obdachlosen bewohnt wurde.

«Mutter sperrte mich in einem kleinen Zimmer ein. Dort war ich den ganzen Tag allein, oft bis spät in die Nacht. Ich hatte furchtbare Angst. Erst nach vielen Tagen gelang es mir, mit dem Handy eines anderen Bewohners Tante Monika anzurufen. Sie holte mich ab und brachte mich zu Grossmutter zurück. Ich habe meine Mutter seither nicht wiedergesehen und weiss auch nicht, wo sie sich aufhält. 
Dass mein Bruder und ich von Vater und Mutter vernachlässigt wurden, war ein offenes Geheimnis. Ich war etwa 8 Jahre alt, als eines Tages – um zwei Uhr in der Nacht – die Polizei und ein Vertreter des Familienministeriums an die Türe klopften. Jemand hatte Anzeige wegen Kindesvernachlässigung erstattet. Die Männer drohten Grossmutter, Brayan und mich wegzunehmen, weil sie zu alt und zu krank sei, um sich um uns zu kümmern.»

Camilas Eltern wurden von der zuständigen Behörde vorgeladen. Da die Mutter nie erschien, wurde dem Vater das alleinige Sorgerecht zugesprochen. Für die Kinder änderte sich damit nichts. Der Vater hat nie für sie gesorgt, bis heute nicht. Camila und Brayan wurden zum Spielball der Familie.

«Mal lebten wir bei Grossmutter und Monika, mal bei Vaters Mutter, zwischendurch schickte man uns zu Tanten, dann wieder zu anderen Verwandten. Niemand hatte genug zu essen, so dass es für uns auch reichte. Es war kein Geld da, um für uns zu sorgen. Als Vorwand, um uns loszuwerden, brauchte es manchmal nur eine kleine Unfolgsamkeit oder eine Reiberei. Dann stellte man uns einfach auf die Strasse. 
Niemand will uns haben, wir fallen allen zur Last – das plagte mich sehr. Ich fühlte mich schuldig, war wütend, verstand nicht, weshalb mir das passieren musste, warum mir das auferlegt wurde. Ich hatte ja nicht darum gebeten, zur Welt zu kommen!»

Eine schwere Kindheit

All diese Erfahrungen und Gedanken haben Camila enorm belastet und emotional destabilisiert. Zu den Schuldgefühlen kamen Angst, Einsamkeit und Hunger. Oft wussten die beiden Kinder nicht, von wem sie die nächste Mahlzeit bekommen konnten, wo sie die Nacht verbringen würden.

«Die Betreuerinnen der Stiftung Presencia haben nicht aufgehört, das Gespräch zu suchen mit allen, bei denen wir gewohnt und die uns wieder fortgejagt haben. Sie machten ihnen unsere schwierige Situation klar und redeten ihnen ins Gewissen. Sie schlugen ihnen vor, doch gemeinsam Verantwortung für Brayan und mich zu übernehmen, statt uns von einem Haus zum anderen zu schicken. Doch sie wollten nicht hören, konnten uns nicht versorgen.»

Camila bekam erst wieder ein Zuhause, als sie elf war. Sie wurde von Tante Yesica aufgenommen, einer Schwester des Vaters.
Als Teenager machten Camila und ihr Bruder schwere Krisen durch. In dieser Zeit war Presencia für Camila besonders wichtig:

«Von den Presencia-Betreuerinnen habe ich Halt und Orientierung erhalten. Sie hatten stets ein offenes Ohr für mich und behielten mich im Auge. Damit halfen sie mir, nicht auf die schiefe Bahn zu geraten. Immer wieder ermahnten sie mich, die Schule nicht zu vernachlässigen, achtzugeben in meinen Beziehungen zu Männern, zu verhüten, damit ich nicht schwanger werde, mich zu pflegen und anständig zu kleiden. Sie haben mir wichtige soziale Werte vermittelt und mich ermuntert, meine Talente herauszufinden und meine Interessen zu verfolgen. So habe ich damals meine Leidenschaft fürs Tanzen entdeckt – und ich tanze immer noch.» 

«Von Presencia habe ich die Liebe und Zuneigung erfahren, die ich in der Familie nie bekommen hatte.»

Erfolgreich dank Ihrer Grossmutter und der Stiftung Presencia

Immer zu Camila gehalten hat auch ihre Grossmutter. Die alte und mittlerweile gebrechliche Frau war und bleibt für Camila sehr wichtig. Die beiden haben ein enges Verhältnis und Camila sagt «Mama» zu ihr.

«Zwar konnte Grossmutter mich nicht so versorgen, wie sie es sicher gerne getan hätte. Aber sie war für mich da. Sie hat aufgepasst, dass mir nichts Schlimmes passiert. Und sie baut mich auf, wenn es mir nicht gut geht. Grossmutter gibt mir Mut, auf meinem Weg weiterzumachen.»

Camilas Bruder hat die Schule verlassen, als er elf war. Er begann, in den Quartierbussen Süssigkeiten zu verkaufen – wie es schon der Vater gemacht hatte. Bald schon war er soweit wie die Eltern. Er konsumierte Drogen und lebte auf der Strasse. Nachdem ihn die Polizei aufgegriffen hatte, wurde er unter den Schutz der Vormundschaftsbehörde gestellt. Brayan wurde in einem Internat untergebracht, wo er den regulären Schulabschluss nachholte. Anschliessend konnte er seine Lehre absolvieren.

«Als mein Bruder mit 18 Jahren volljährig war und deshalb aus der Vormundschaft entlassen wurde, ging er zurück auf die Strasse und zu den Drogen. Wenn ich ihn sehe, tut es mir weh. Eine Zeitlang hatte ich grosse Angst, ins gleiche Fahrwasser zu geraten.»

Ende dieses Jahres schliesst Camila die reguläre Schulzeit ab. Mit Hilfe ihrer Presencia-Betreuerin Ana Marcela bereitet sie sich seit zwei Jahren auf die Berufswahl vor. Sie möchte gerne an die Universität, um Sozialwissenschaften zu studieren.  

«Von Presencia habe ich die Liebe und Zuneigung erfahren, die ich in der Familie nie bekommen hatte. Die Presencia-Betreuerinnen haben mich immer unterstützt, auch finanziell. Sie haben zusammen mit mir nach Lösungen für meine Probleme gesucht, haben mich motiviert, meinen Fähigkeiten zu vertrauen. Sie haben mich nie alleine gelassen.» 

Camilas Grossmutter vor ihrem Haus in Medellin Kolumbien

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