Saras Schutzengel
Es ist dunkel, stickig und eng in dem ärmlichen Zimmer, mitten in einem dicht besiedelten Armenviertel Medellíns. Ein Baby weint. Es hat Hunger, müsste auch dringend gewickelt werden. Aber seine Eltern sind nicht da, wie meistens. Denn Mutter und Vater teilen eine zerstörerische Leidenschaft, die sogar die Sorge um ihr Kind verdrängt: Drogen.
Doch das Weinen bleibt durch die dünnen Wände nicht ungehört. Die Tür geht auf. Eine Frau nimmt das Baby hoch, schaukelt es sanft. «Hola, mi niña hermosa», sagt sie. In ihren Armen trägt sie das schreiende Bündel hinaus und in ihr ebenso bescheidenes Heim nebenan. Sie badet, wickelt und füttert das Kind, das Sara heisst. Die Kleine weint nicht mehr.
Martha, Saras Grossmutter, kümmert sich um sie
Und so wird es in Zukunft bleiben, auch wenn sie das Baby abends wieder in das Haus der Eltern zurückbringt.
Das ist die Geschichte von Sara Cardona Ruiz. Saras Vater, Cesar Augusto, ist Marthas älterer von zwei Söhnen. Sein eigener Vater, Saras Grossvater, ist alkoholkrank, die Familie sehr arm. Cesar Augusto verlässt die Schule mit 13 Jahren, verbringt die meiste Zeit auf der Strasse, hat nie eine feste Arbeit und rutscht früh in die Drogen ab. Er konsumiert unter anderem Bazuco, ein hochgiftiges Nebenprodukt der Kokainproduktion. Mit 24 lernt er die zehn Jahre ältere Claudia kennen. Er zieht nach zwei Jahren zu ihr und ihrer Familie, wo von nun an sieben Personen auf 26 Quadratmetern leben.
Nach drei Jahren Beziehung wird Claudia schwanger. Sie will das Kind zuerst nicht, bekommt es dann doch. Sie ist die Tochter einer Bettlerin und eines alkoholkranken, gewalttätigen Vaters. Jung hatte sie zwei Kinder, fast 20 Jahre später mit Sara ihr drittes. Claudia ist selbst alkoholkrank. Die Beziehungen zu ihrem Umfeld sind schwierig, auch zu Saras Vater.
Sara ist drei Jahre alt, als Claudia versucht, ihren Mann umzubringen
Die Polizei greift ein und droht, den Eltern das Kind wegzunehmen. Sara lebt jetzt ganz bei ihrer Grossmutter, obwohl diese das Sorgerecht nicht bekommt. Ihre Eltern sieht Sara täglich, aber weder Vater noch Mutter tragen etwas zu ihrem Lebensunterhalt oder ihrer Erziehung bei.
In Marthas Haus – über viele Jahre selbst gebaut aus den unterschiedlichsten Materialen – lebt Sara mit den Grosseltern und ihrem Onkel, dem jüngeren Bruder ihres Vaters.
Privatsphäre gibt es keine
Das Haus besteht aus zwei offenen Zimmern mit vier Betten, dazwischen ein Durchgang von einem halben Meter Breite. Dazu kommen eine winzige Küche, ein Bad, eine Abstellkammer, ein kleiner Hof und ein Waschbereich. Ein einziges Zimmer verfügt über ein Fenster, durch das etwas Tageslicht und Luft strömt. Trotz der widrigen Umstände: Hier bekommt das Kind die Aufmerksamkeit und Liebe, die es braucht.
Mit vier Jahren geht Sara in den Kindergarten, hat jedoch Mühe, sich einzufügen. Erst in einer Institution, die von Nonnen geführt wird, geht es ihr besser und sie blüht auf. Als Sara fünf Jahre alt ist, bekommt Claudia aufgrund ihres problematischen Verhaltens unter Alkoholeinfluss Todesdrohungen. Sie zieht weg, in das Quartier, wo sie selbst aufgewachsen ist, während Cesar Augusto bei Martha einzieht. Saras Eltern führen ihre Beziehung weiter und sehen sich oft. Ihr Vater arbeitet, hat sich gefangen und verbringt jetzt mehr Zeit mit seiner Tochter. Das macht Sara glücklich.
Aber die Beziehung der Eltern geht in die Brüche. Cesar Augusto flüchtet sich wieder in die Drogen. 2019 beginnt er ein Leben auf der Strasse, aber kehrt bald zurück zu Martha.
In der Enge des Hauses bekommt Sara mit, wie ihr Vater sich zugrunde richtet, oft unfähig überhaupt aufzustehen
Das Kind – zu diesem Zeitpunkt in der dritten Klasse – leidet, auch gesundheitlich und schulisch. Halt und Unterstützung findet sie bei der Schulpsychologin und einmal mehr bei ihrer Grossmutter.
Dann, in der vierten Klasse, der Wendepunkt: Im Alter von neun Jahren wird Sara Begünstigte der Stiftung Presencia. Sie schafft es, ihre schulischen Leistungen zu verbessern. Es gefällt ihr bei der Stiftung – die Betreuerinnen, die Aktivitäten, die neuen Freundinnen und Freunde. Das Mädchen weiss, dass sie etwas leisten muss, damit sie bleiben darf. Am Presencia-Standort kann sie der Enge ihres Daheims und der traurigen Präsenz ihres Vaters entfliehen. Sie geniesst dort Dinge wie Ausflüge aufs Land, die sich ihre Familie nicht leisten kann.
Das Einkommen der Familie setzt sich jetzt zusammen aus einer minimalen Pension des Grossvaters aus seiner Zeit als Reifenmonteur und aus dem, was Martha mit dem Verkauf der Milch von zwei Kühen an Gewinn erzielt. Saras Onkel arbeitet sporadisch als Lastenträger. Das Wenige, was er verdient, braucht er vor allem für den Unterhalt seines Sohnes und seine Alkoholsucht. Saras Vater trägt nichts bei. Was er ab und zu mit dem Sammeln von Flaschen, Karton, Plastik etc. verdient, fliesst in seine Drogensucht.
Mit der Pandemie verschärft sich die Situation: Die Schule, der Presencia-Standort – alles ist zu. Das Geld reicht knapp zum Überleben, Lebensmittelhilfen von Presencia sichern die Existenz.
Für virtuelles Lernen ist die Familie nicht ausgerüstet
Eine Verwandte im Nachbarhaus lässt Sara das WIFI nutzen, damit sie mit ihrem Handy am Unterricht teilnehmen kann. Aber ihr Daheim wird für Sara immer enger, immer bedrückender. Ihre Hausaufgaben macht sie auf dem Bett, es gibt keinen Platz für einen Tisch.
Als Teenager fällt es ihr zunehmend schwer, das Bett mit der Grossmutter zu teilen und im gleichen Raum zu sein wie Vater, Onkel und Grossvater.
Sie träumt davon, einen Ort nur für sich zu haben
Dank einer ausserordentlichen Spende kann Presencia ihr 2021 diesen Wunsch erfüllen. Aus einer schmalen freien Fläche neben dem Haus wird ihr neues Zimmer, das beste und sauberste im Haus. Obwohl es kein Fenster hat, gibt es Platz für ein Bett und einen Schreibtisch und vor allem für ihre persönliche Entwicklung.
2022 erhält Sara von der Stadt Medellín einen Computer geschenkt. Auch dadurch fällt ihr die Schule nun leichter. Die Wochenenden verbringt das Mädchen in seinem Zimmer oder es besucht die Mutter. So vermeidet sie, ihren verwahrlosten Vater zu sehen.
Manchmal streitet Sara mit ihrer Grossmutter
Martha will, dass Sara ihr Zimmer aufräumt oder im Haus mithilft. Das macht sie nicht immer gern, aber sie unterstützt die bald 70-jährige Martha beim Putzen und Kochen.
Sara überlegt sich, zu ihrer Mutter zu ziehen. Diese lebt mittlerweile allein, ihre beiden älteren Kinder sind ausgezogen. Ihre Sucht hat sie hinter sich gelassen. Claudia lebt vom Verkauf von Zeitschriften. Sie hat jetzt Lust und die Möglichkeit, sich um ihre Tochter zu kümmern. Saras schulische Leistungen sind gut. Presencia ermöglicht ihr Nachhilfe in Englisch, mit dem sie die grössten Schwierigkeiten hat. Nach wie vor ist sie auch gern bei ihrer Grossmutter. Martha, ihr Schutzengel, und ihr Zimmerchen geben dem Mädchen Stabilität und Sicherheit. Noch ist Saras Leben geprägt von der Armut und einem Leben, das sich in der Enge abspielt. Doch sie hat die Chance, einen anderen Weg zu finden als ihre Eltern. Hoffentlich geht sie ihn unbeirrt weiter.