Als Jenifer zur Welt kam, hatte ihre Mutter bereits sechs Kinder. Ihr Zuhause war ein einziges Zimmer im Armenviertel ‹El Limonar› – für acht Personen ganze neun Quadratmeter. Küche und Bad hatten sie mit der Familie des Vermieters zu teilen.
Um ihre Kinder durchzubringen, musste die Mutter hart arbeiten. Sie verdiente ihr Geld als Haushaltshilfe bei fremden Leuten, Jenifer und ihre Geschwister waren auf sich selbst gestellt.
«Die meiste Zeit verbrachten wir auf der Strasse. Meine ältesten Brüder waren oft unterwegs. Sie erledigten kleine Aufträge der kriminellen Bande, die in unserem Viertel das Sagen hatte. Damit konnten sie ein wenig Geld dazuverdienen. Der Verdienst unserer Mutter reichte nicht weit. Wir hatten nie genug zu essen, und ein richtiges Zuhause sowieso nicht.»
Die Väter der Kinder trugen zum Lebensunterhalt der Familie nichts bei. Sie hatten sich längst aus dem Staub gemacht – mit Ausnahme des Vaters der kleinen Jenifer. Er lebte einige Strassen weiter und war den Kindern sehr verbunden.
«Wir hatten engen Kontakt. Obwohl er trank, war mein Vater sehr liebenswürdig und immer darauf bedacht, mich zu beschützen. Mit Geld konnte er uns nicht helfen. Er hatte keinen Schulabschluss und daher keine geregelte Arbeit. Mein Vater war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Unsere Mutter auch. Weil ihre Eltern nicht alle Kinder ernähren konnten, musste sie schon früh arbeiten. Als Neunjährige wurde sie in einer reichen Familie platziert, wo sie ausgebeutet und misshandelt wurde. Schliesslich floh sie, landete auf der Strasse und in der Prostitution. Nach einer Vergewaltigung gebar sie ihr erstes Kind. Da war sie 14 Jahre alt.»
Todesopfer wegen unsichtbaren Grenzen
Der Alltag von Jenifer und ihren Geschwistern war hart. Dafür sorgten vor allem ihr Vermieter und dessen Söhne. Sie beschimpften, bedrohten und schlugen die Kinder.
Der Vermieter und seine Söhne gehörten zur kriminellen Bande, die das Quartier kontrollierte. Ihre Aufgabe war es, für Ruhe und Ordnung in der Strasse zu sorgen.
«Sie lagerten Waffen und Drogen im Haus und waren selber abhängig. Der Vater war Alkoholiker, die Söhne konsumierten Kokain. Sie bedrohten nicht nur uns, sondern jeden, der sich ihnen widersetzte. Als meine Brüder älter wurden, liessen sie sich nicht mehr alles gefallen. Unsere Situation wurde dadurch noch schlimmer und spitzte sich zu, als mein Vater erfuhr, dass der Vermieter mich geschlagen hatte. Die zwei Männer, beide betrunken, stritten sich heftig und von da an wurde nun auch mein Vater bedroht.»
Die Bande war zu einer so grossen Gefahr geworden, dass die Mutter mit Jenifer und ihren Geschwistern deren Einflussgebiet verliess und ein Zimmer im Nachbarquartier bezog. Hier hatte eine andere Bande das Sagen. Zwischen dem alten und dem neuen Wohnort verlief eine unsichtbare Reviergrenze.
«Wer über solche Grenzen gelangt, lebt gefährlich, denn er gilt als Spitzel. In der ersten Zeit weigerte ich mich deshalb, das Haus überhaupt zu verlassen. Unsere Freunde und mein Vater lebten nun ‹auf der anderen Seite›. Wir konnten uns nicht mehr besuchen.»
Doch Jenifers ältere Brüder querten die Reviergrenze, zum einen, um ihre alten Freunde zu treffen, zum anderen, weil sie mittlerweile Drogen konsumierten und sie ‹drüben› beschafften. Regelmässig kamen sie verletzt, manchmal blutüberströmt nach Hause zurück. Eines Tages gerieten auch Jenifers Schwestern zwischen die Fronten: Lizeth und Jeimy waren zufälligerweise Zeuginnen eines Mordes geworden.
«Das Opfer war ein Junge aus der Nachbarschaft. Die Täter waren Mitglieder der Bande, welcher auch unser ehemaliger Vermieter angehörte. Da wir früher in ihrem Einflussgebiet gewohnt hatten, nahm die in unserem aktuellen Wohnquartier herrschende Bande an, dass meine Schwestern sie erkannt haben mussten. Männer dieser Bande wollten von ihnen die Namen wissen. Lizbeth und Jeimy kannten die Mörder jedoch nicht. Dennoch wurden sie massiv bedroht. Die Männer liessen erst von ihnen ab, als meine Mutter von der Arbeit herbeigeeilt war, nachdem ein Nachbar sie telefonisch alarmiert hatte.
Lizeth und Jeimy verliessen das Zimmer aus Angst nicht mehr. Mutter beschloss, zu unserem Schutz ein weiteres Mal umzuziehen. Doch – wo wir auch wohnen und wie wir uns auch verhalten: Die Gewalt holt uns ein. In den letzten Jahren wurde mein Bruder John etliche Male angegriffen. Als er mit einer Eisenstange verprügelt worden war, hätte er Spitalpflege gebraucht. Er weigerte sich – aus Angst vor Vergeltung: Das Spital ist verpflichtet, bei Gewalttaten die Polizei zu verständigen. Die Tat wird publik und die Täterbande erfährt, dass sie vom Opfer denunziert worden ist. Kaum war John wieder auf den Beinen, wurde er erneut verprügelt. Diesmal vor unseren Augen. Mein Bruder war voller Blut, sein Gesicht war entstellt und er hatte am ganzen Körper Prellungen und starke Schmerzen. In den folgenden Nächten wachte er immer wieder laut schreiend auf.»
«Wo wir auch wohnen und wie wir uns auch verhalten: die Gewalt holt uns ein.»
Für den Vater kam jede Hilfe zu spät
Die Familie hatte grosse Angst, dass John das gleiche Schicksal widerfahren könnte wie Jenifers Vater. Jenifer war neun Jahre alt, als er sich an einem Morgen von ihr verabschiedet und auf die Suche nach Arbeit gemacht hatte. Er wurde nie mehr gesehen.
«Mein Vater blieb spurlos verschwunden. Es gab Gerüchte. Einmal, Vater sei umgebracht worden. Ein anderes Mal, er sei abgehauen. Erst fünf Jahren nach seinem Verschwinden erfuhren wir aus einem Bericht der Staatsanwaltschaft, was wirklich passiert war. Man hatte meinen Vater damals tot aufgefunden, in einem Flussbett unseres Quartiers. Sein Körper wies Spuren schwerer Folter auf.»
Wer Jenifers Vater auf dem Gewissen hat, wurde nie offiziell genannt – wie in den allermeisten Fällen, wenn in Armenvierteln Mordopfer aufgefunden werden. Dennoch ist meist klar, wer die Täter sind. Jenifers Vater ist mit grösster Wahrscheinlichkeit von der Bande des ehemaligen Vermieters umgebracht worden.
Jenifer litt schwer unter der Nachricht und den Umständen von Vaters Tod. Sie bekam schwere Depressionen, wollte nicht mehr zur Schule gehen und ihre Noten wurden schlecht.
Ein Lichtblick in all der Gewalt
«Nur dank der Hilfe und Unterstützung der Presencia-Betreuerinnen schaffte ich es, mich durchs Schuljahr zu bringen und nach und nach wieder Mut und Zuversicht zu fassen.
Heute bin ich stolz auf mich: Ich habe kürzlich meine Lehre als Administrationsassistentin abgeschlossen, mit Erfolg. Die Presencia-Betreuerinnen wollten mich überzeugen, ein Studium zu absolvieren. Aber ich will arbeiten. Ich will meine Familie und vor allem meine Mutter unterstützen. Ich bin das einzige Familienmitglied mit Berufsabschluss. Um meine Geschwister steht es nicht gut. Ein einziges hat die reguläre Schule abgeschlossen. Keines hat eine Ausbildung, geregelte Arbeit, regelmässiges Einkommen. Und alle haben Kinder. Jeimy, Lizeth und John sind in den Teufelskreis von Drogenkonsum und Kriminalität abgerutscht. Lizeth, mit ihren drei Kindern, und John wohnen bei unserer Mutter und sind von ihrem Einkommen abhängig.»
Jenifer hat in ihrer Kindheit viel Angst, Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit erlebt. Dennoch ist es ihr gelungen, sich von der organisierten Kriminalität und den Drogen fernzuhalten:
«Sicher auch, weil ich weniger Zeit auf der Strasse verbracht habe als meine Geschwister. Ich war oft am Presencia-Standort in meinem Quartier. Hier hatte man Zeit für mich. Ich traf auf offene Ohren, erhielt regelmässig eine Mahlzeit und die Bereuerinnen halfen mir bei den Schulaufgaben. Sie waren in schweren Momenten für mich da und zeigten mir Perspektiven für mein Leben auf. Ich habe gelernt, an mich zu glauben und meine Probleme anders zu lösen als mit Gewalt und Drogen.»
«Am Presencia-Standort in meinem Quartier hatte man Zeit für mich. Ich traf auf offene Ohren und die Presencia-Betreuerinnen waren in schweren Momenten für mich da.»