Eine Kindheit voller Gewalt und Armut

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Julian mit seiner Familie im Wohnhaus in Medellin. (Bild: Stiftung Presencia)

Julian wurde als Baby in das Sozialbegleitungsprogramm der Stiftung Presencia aufgenommen. Ein alkoholkranker, gewalttätiger Vater und finanzielle Not prägten seine Kindheit und Jugend. Heute steht Julian vor dem Abschluss seines Studiums.

«Mein Vater war in einem kleinen Dorf aufgewachsen, mehrheitlich bei Verwandten, da seine Mutter ihre Kinder vernachlässigte. Mein Grossvater war alkoholkrank. Als einziger Junge der Familie wurde mein Vater zu seinem Aufpasser und Begleiter, obschon er noch klein war. Zuneigung erhielt er in Form von Alkohol: Mein Vater trank bereits mit sieben Jahren und bald wurde der Alkohol zu seinem Lebensinhalt.  
Meine Mutter lebte mit sieben Geschwistern ebenfalls auf dem Land. Ihre Mutter war alleinerziehend. Ein festes Einkommen fehlte, die Familie litt oft Hunger und die Kinder konnten kaum zur Schule gehen. Mit 15 Jahren zog meine Mutter nach Medellín, um ihr Leben als Haushälterin zu verdienen. Hier lernte sie auch meinen Vater kennen.»

Nohemi heiratete Urias trotz seines Alkoholproblems. Sie glaubte fest daran, dass eine eigene Familie ihren Mann von seiner Sucht befreien würde. Bald wurde sie schwanger. Die Armut war gross. Urias vertrank das wenige Geld, das er als fliegender Händler verdiente. Die werdenden Eltern überlebten nur dank der Hilfe und Solidarität ihrer Nachbarn.  
Als Julian geboren war, hatte Nohemi keine Muttermilch und auch kein Geld, um Milch für den Kleinen zu kaufen. Sie suchte Hilfe und fand sie bei der Stiftung Presencia, die Julian in ihr Sozialbegleitungsprogramm aufnahm. Presencia sorgte mit finanziellen Beiträgen dafür, dass Baby Julian richtig ernährt werden konnte. Fachkräfte von Presencia unterstützten Mutter Nohemi bei der Erziehung ihres Sohns und berieten sie im Umgang mit ihrem süchtigen Mann, der inzwischen neben Alkohol weitere Drogen konsumierte und zunehmend aggressiver wurde. 
Als Julian ein Jahr alt war, wurde die Familie umgesiedelt in das Armenviertel El Limonar, wo der Staat in Blockbauten subventionierten Wohnraum vergab.

«Jetzt hatten wir zwar eine 3-Zimmer Wohnung, aber damit kamen neue finanzielle Schwierigkeiten: Der Kredit für die Wohnung war zwar nur symbolisch, musste aber dennoch abbezahlt werden. Dazu kamen Rechnungen für Steuern, Strom und Wasser. Diese Kosten konnten meine Eltern nicht bewältigen. Sie mussten deshalb zwei der drei Zimmer untervermieten.»

Julian beim Gitarre spielen in Medellin

Die tägliche Angst vor der Gewalt

Eineinhalb Jahre nach Julians Geburt kam seine Schwester Maribel zur Welt. Urias hatte bereits auf die Schwangerschaft negativ reagiert: Ein weiteres Kind würde Mehrausgaben bedeuten, und damit weniger Geld für Alkohol. Wenn Urias betrunken heim kam, schrie er alle an, beleidigte und misshandelte Nohemi und belästigte die Untermieterinnen und Untermieter, die wegen ihm auch oft wechselten. Er schlug Fenster und Türen ein und demolierte die Wohnungseinrichtung – in Julians Zuhause gab es schliesslich keine Möbel mehr. 
Nohemi wollte ihre Kinder vor Urias schützen.

«Abends, bevor Vater nach Hause kam, schloss Mutter uns im Zimmer ein, damit wir seine Gewaltausbrüche und Misshandlungen nicht direkt mitbekommen mussten. Als ich etwa vier Jahre alt war, schickte Mutter meine Schwester und mich zum Übernachten zu Angehörigen unseres Vaters. Später, als diese uns nicht mehr wollten, schliefen wir bei einer Nachbarin. So bekamen wir nicht alles mit. Trotzdem hatten wir immer Angst, um unsere Mutter, aber auch um Vater. Denn er kam oft am Morgen blutüberströmt heim, nachdem er sich die ganze Nacht herumgetrieben und dabei geprügelt hatte.
Als Maribel und ich etwas älter waren, schliefen wir wieder zu Hause. Mit der Zeit konnten wir Vaters Zustand einschätzen, wenn er heimkam und merkten sofort, ob er mittelmässig oder viel getrunken hatte. Abend für Abend versteckten wir uns unter dem Küchentisch oder im Zimmer. Wir hielten uns bereit, um bei Vaters Heimkehr im rechten Moment aus der Wohnung fliehen zu können. Wenn Vater nüchtern nach Hause kam – was äusserst selten vorkam – verbrachten wir alle den Abend zusammen. Das war sehr schön und bleibt für mich eine wertvolle Erinnerung.»  
 

Da Urias sein Geld vertrank, musste die Familie mit den Einnahmen aus der Zimmervermietung auskommen. Sie reichten für den Lebensunterhalt der vierköpfigen Familie jedoch nicht aus. Oft wurden Strom, Wasser und Gas abgestellt, weil die Rechnungen nicht bezahlt werden konnten. 

«Abend für Abend versteckten wir uns unter dem Küchentisch oder im Zimmer, um bei Vaters Heimkehr im rechten Moment fliehen zu können.»

Hilfe kam zur richtigen Zeit

«Da musste Mutter bei Nachbarn Wasser erbetteln und bei Kerzenlicht auf einem Holzfeuer kochen. Auch das Essen war knapp. Deshalb erhielten wir von Presencia viele Jahre lang Warenkörbe mit den wichtigsten Grundnahrungsmitteln.
Maribel und ich durften am Mittag am Presencia-Sitz in unserem Quartier oder in der Schule essen. Mutter war es wichtig, uns vor Mangelernährung zu bewahren. Deshalb achtete sie streng darauf, dass wir auch wirklich hingingen, um dort das gesunde Essen zu bekommen. 
Meine Familie bekam nicht nur finanzielle Hilfe, sondern auch viel psychologische Unterstützung und Betreuung. Mit mir haben die Presencia-Erzieherinnen viele Gespräche geführt und mich dabei ermuntert, über meine Probleme in der Familie zu sprechen. Sie haben mich auch davon überzeugt, dass ich trotz meiner schwierigen Bedingungen zuversichtlich in die Zukunft schauen darf, dass ich auch eigene Interessen entwickeln und einen Sinn im Leben finden kann.»  

Presencia bezahlte die Schulgebühren von Julian. Nohemi leistete ihrerseits einen wichtigen Beitrag an die Schulbildung ihrer Kinder: Stets achtete sie darauf, dass Julian wie auch Maribel ihre Hausaufgaben sorgfältig erledigten. Wenn sie ihnen dabei nicht behilflich sein konnte – sie hatte keine Schulbildung genossen – suchte sie Bewohnerinnen und Bewohner ihres Quartiers, die ihren Kindern halfen. 
In der Schule begegnete man der Familie und ihren Schwierigkeiten mit Verständnis. Nohemi sprach offen über ihre Situation, so dass die Lehrkräfte von Julian über seine Lebensumstände gut im Bild waren.

«Wenn ich jeweils ganz durcheinander oder übermüdet zum Unterricht erschien, liessen mich die Lehrerinnen und Lehrer erst mal ausschlafen. Sie schickten mich nach Hause oder stellten mir ein Zimmer in der Schule zur Verfügung. An solchen Tagen durfte ich dann am Nachmittag am Unterricht teilnehmen. Dank dieser Unterstützung und all den positiven Erfahrungen in der Schule musste ich kein Schuljahr wiederholen. Das war, bei den Schwierigkeiten meiner Familie, nicht selbstverständlich.» 

Julian beim Lernen in Medellin

Ein beschwerlicher Weg in die Zukunft

Als Teenager entdeckte Julian seine Passion für die Musik. Presencia förderte sein Interesse und Talent aktiv, ermöglichte ihm Gitarrenunterricht und vermittelte ihm Auftritte an Quartieranlässen und in der Schule. Bald komponierte Julian eigene Lieder und konnte mit seinen Auftritten ein Taschengeld verdienen. 
Nohemi wurde nach wie vor von Urias misshandelt. Als Julian 17 Jahre alt war, griff er erstmals ein.

«Ich verpasste meinem Vater einen Faustschlag, worauf dieser mit einem Messer auf mich losging. Nur mit der Hilfe von Mutter ist es mir gelungen, den Angriff von Vater abzuwehren.»

Das Vorkommnis war einschneidend für die ganze Familie: Von nun an versah Julian in der Familie eine Führungsrolle, indem er konsequent für die Mutter einstand. Er hatte erkannt, dass er seinem Vater körperlich überlegen war, aber auch, dass er mit Gewalt etwas bewirken konnte. Es war eine schwierige Zeit für Julian. Er begann, Drogen zu konsumieren. Diese lösten bei ihm Depressionen aus.
In dieser Lebensphase wurde Julian von Presencia eng begleitet. Die Erzieherinnen und Projektverantwortlichen erkannten Julians Drogenproblem und führten viele Gespräche mit ihm.

«Die Presencia-Erzieherinnen haben mir aufgezeigt, dass ich drauf und dran war, die Verhaltensmuster meines Vaters zu übernehmen. Sie machten mir aber auch deutlich, dass ich als erster in den Generationen unserer Familie die Chance hatte, den Teufelskreis von Drogen und Gewalt zu durchbrechen. Es ist mir tatsächlich gelungen, diese Chance zu packen.
Als ich etwa 20 Jahre alt war, beschloss Mutter, dass Vater nicht mehr in unsre Wohnung kommen dürfe. Er hämmerte stundenlang an die Wohnungstür, doch wir blieben standhaft. Seither schläft Vater im Korridor auf einer Matratze. Jeden Morgen, wenn ich das Haus verlasse, muss ich an ihm vorübergehen. Es tut mir sehr weh, Vater vor unserer Wohnung auf seiner Matratze liegen zu sehen. Seine Aggressionen, die wir so lange hatten erdulden müssen, hatten aber noch mehr wehgetan.»  

«Presencia machte mir deutlich, dass ich als erster die Chance hatte, den Teufelskreis von Drogen und Gewalt zu durchbrechen.»

Eine unverhoffte Chance

Eines Nachts kam ein Anruf vom Spital: Urias war lebensgefährlich verletzt. Man hatte ihn so brutal zusammengeschlagen, dass die Neurologen die Genesungschancen als gering einschätzten. Als Julian seinen Vater im Spital besuchten wollte, verweigerten ihm dessen Familienangehörige den Zutritt. Sie machten Julian und seine Familie verantwortlich für das, was dem Vater widerfahren war. Urias wurde nach acht Monaten aus dem Spital entlassen – und war auch von seiner Alkoholsucht geheilt. Die Familie erlebte einige glückliche Monate.

«Zum ersten Mal in meinem Leben hatten wir nicht nur einen friedlichen Vater, sondern auch genügend Lebensmittel im Haus.»

Dann griff Urias wieder zur Flasche. Der Rückfall war für seine Familie ein schwerer Schlag, eine Enttäuschung – und gleichzeitig eine Chance: Nohemi, Julian und Maribel realisierten, wie wichtig es war, sich nicht wieder runterkriegen zu lassen, sondern sich auf das eigene Leben zu konzentrieren.

«Meine Mutter holte den regulären Schulabschluss mit Matura nach. Aktuell ist sie im dritten Semester ihres Studiums zur Kleinkinderzieherin. Maribel hat eine Lehre als Personalfachfrau abgeschlossen und arbeitet auf ihrem Beruf. Und ich studiere an der Uni. Mein Studium ist von Presencia finanziert, dank Spendengeldern. Am Wochenende arbeite ich als DJ, um Mutter finanziell zu unterstützen. In einigen Monaten schliesse ich das Studium ab – und dann mache ich meine Leidenschaft zum Beruf: Ich werde Musiklehrer.»

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