Bildung - ein Privileg in den Armenvierteln Kolumbiens

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Alles sprach dagegen, dass Yuranny studiert: ihre Herkunft aus dem Armenviertel, der harte Alltag ihrer alleinerziehenden Mutter, ihr Umfeld und der Verteilkampf um Studienplätze und Stipendien. Aber sie und ihre Mutter haben nie aufgehört, von einem besseren Leben zu träumen.

Yuranny Arias Gaviria schaut aufmerksam ins Mikroskop. Über der schwarzen Uniform mit dem Logo ihrer Ausbildungsstätte trägt die 20-Jährige einen blütenweissen Laborkittel. Neben ihr steht ihre Presencia-Betreuerin Ana Marcela García. Yuranny erklärt ihr, wie die Analysen im Labor bei der Aufklärung von Verbrechen helfen. Ihre Begeisterung für die Kriminalistik ist spürbar und ihr Wissen als Studentin im siebten Semester gross. Nach dem Studium will sie Karriere bei der Nationalpolizei machen. Und dazu beitragen, dass mehr Verbrechen in ihrem von Gewalt geplagten Land aufgeklärt werden.

Man sieht der jungen Frau nicht an, welche Anstrengungen bereits hinter ihr liegen. Der Weg an die Fachhochschule, jedes einzelne Semester ihrer Ausbildung – ein riesiger Kraftakt. Ihre Betreuerin Ana Marcela sagt über Yuranny: «Sie ist sehr diszipliniert. Ihr grösster Wunsch ist es, über die Bildung ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Mit diesem Ziel vor Augen hat sie bisher sämtliche Hürden auf ihrem Weg überwunden, egal wie hoch sie waren.» 

Yuranny an der Uni in Medellin Kolumbien. (Bild: Stiftung Presencia)

Die Kämpferinnen

Yuranny ist eine Kämpferin – genau wie ihre Mutter Angela, die sich für ihre Tochter ein besseres Leben wünscht als ihr eigenes. Die 47-Jährige ist auf dem Land aufgewachsen, in einer Gegend, die vom Zuckerrohr-, Kaffee- und Ananasanbau, Goldminen und Viehwirtschaft lebt. Als sie klein ist, kommt ihr Vater oft betrunken nach Hause. Dann schlägt er seine Frau und die elf Kinder. Die Familie lebt in Armut. Das Geld, das der Vater mit der Viehhaltung verdient, gibt er für seine Alkoholsucht aus. Angelas Mutter, selbst Analphabetin, setzt sich gegen ihren Mann durch und schickt Angela zur Schule, zuerst im Weiler, dann im Dorf, wo das Mädchen bei der Grossmutter wohnt. In der achten Klasse hört ihr Vater, dass Angela Fahrrad fährt. Ein Skandal! Er bestraft sie so brutal, dass sie körperliche Schäden davonträgt, die Schule abbrechen und zurück zu ihren Eltern muss. 

1987, als Angela 14 Jahre alt ist, zieht sie nach Medellín. Sie bekommt einen Job als Küchenhilfe in einem Restaurant. Als der Besitzer erschossen wird, schliesst das Restaurant. Danach putzt Angela Arztpraxen. Als ihre Grossmutter stirbt, kehrt sie für ein Jahr nach Hause zurück. Zurück in Medellín arbeitet sie zwei Jahre als Hausangestellte unter sklavenähnlichen Bedingungen. Dann wird sie ihre eigene Chefin. Sie verkauft auf der Strasse Früchte. Als die Konkurrenz zu gross wird und die Früchte immer öfter liegenbleiben und verderben, beginnt sie Süssigkeiten und Zigaretten zu verkaufen. Später lernt sie, Auflagen aus Holzkugeln für Autositze herzustellen, die sie an einer Kreuzung verkauft. Auch der Reparaturservice gehört zu ihrem Angebot.

«Yuranny und ihre Mutter werden weiterkämpfen - bis sich ihr Traum vom besseren Leben erfüllt.»

Angela spart. Mit 25 kauft sie sich ein kleines Stück Land in einem Armenviertel, an einem der steilen Hänge Medellíns. Nach und nach entsteht ihr Haus, zuerst als dürftiges Provisorium, später mit richtigem Baumaterial. Die Gegend ist nicht sicher, bis heute. Bandenkriege, Drogen und Prostitution sind allgegenwärtig.

Mit 27 wird Angela ungeplant schwanger. Ihr Freund, ein Busfahrer, mit dem sie zwei Jahre lang zusammen ist, will das Kind nur anerkennen, falls es ein Junge wird. Es stellt sich heraus, dass er verheiratet ist und Kinder hat. Angela beendet die Beziehung. Gleichzeitig nimmt sie ihre kranken Eltern bei sich auf. Sie werden während der nächsten zehn Jahre bei ihr wohnen, bevor sie zurück aufs Land ziehen. Angelas finanzielle Verantwortung wächst, sie muss nun für sich, ihre Eltern und das Baby aufkommen. In den Wehen fährt sie allein mit dem Bus ins Spital und mit dem Baby im Arm wieder zurück. Sie hat kein Geld für ein Taxi. Ein Einkaufswagen wird Yurannys Wiege an der Kreuzung, wo Angela die Sitzauflagen verkauft.

Noch mehr Familie trifft ein: Als das Baby sechs Monate alt ist, kommen Angelas Brüder mit ihren Kindern ebenfalls zu ihr. Sie fliehen aus einem Konfliktgebiet. Angela muss das Haus aufstocken, um alle unterzubringen. Aber sie wehrt sich. Sie kann und will nicht alle versorgen. Die Beziehung zu ihren Brüdern zerbricht. Trotz aller Schwierigkeiten setzt Angela alles daran, dass ihre Tochter so behütet wie möglich aufwächst und die Schule besuchen kann. Yuranny ist wissbegierig und lernt schon im Kindergarten lesen und schreiben. Sie wird vorzeitig eingeschult und hat während ihrer ganzen Schulzeit ausgezeichnete Noten. Schon früh weiss sie, dass sie studieren und einen Beruf erlernen will.

Yuranny weiss, wer ihr Vater ist. Ihre Mutter zeigt ihn ihr, wenn er mit dem Bus vorbeifährt. Erst als sie in den Kindergarten geht, bekundet er Interesse. Für kurze Zeit zahlt er für sie einen kleinen Betrag. Als sie vier ist, zünden Banden seinen Bus an und bedrohen ihn mit dem Tod. Er flieht aus Medellín, sie hören nichts mehr von ihm. 

Yuranny und ihre Mutter beim Strassenverkauf Medellin Kolumbien. (Foto: Stiftung Presencia)

Erst zehn Jahre später sehen sich die beiden wieder – per Zufall. Yuranny erwähnt einer Schulkameradin gegenüber den Namen ihres Vaters. Sie kennt ihn, denn sie ist mit ihm verwandt. Über sie kontaktiert Yuranny eine ihrer Halbschwestern. Diese lädt sie nach Hause ein und stellt sie ihrem Vater als eine Freundin von der Uni vor, weil Yuranny seine Reaktion fürchtet. Sie ist dort ab sofort regelmässig zu Gast. Erst Monate später kommt die Wahrheit ans Licht, als Angela Yurannys Vater begegnet. Vater und Tochter freunden sich an und sie zieht zu ihm. Aber es gibt Streit und Eifersüchteleien unter den Familienmitgliedern. Yuranny kehrt zu ihrer Mutter zurück.

Angela versucht immer wieder, ihr Leben auf eine sicherere finanzielle Grundlage zu stellen: Über eine Ausbildung zur Stylistin und als Coiffeuse. Aber sie wird krank und verliert den Job. Ein paar Jahre später – Yuranny ist acht Jahre alt – arbeitet Angela als Köchin in einem Holzfällerlager. Das Camp wird von einer illegalen Gruppe attackiert, sie müssen flüchten und gehen zurück nach Medellín. Auch als Arbeiterin in einer Goldmine versucht sie ihr Glück. Aber zwei Knieoperationen innerhalb kurzer Zeit setzen diesem Weg ein Ende. Ein Knie wird nie wieder richtig gesund. 

Der schwere Weg zu einer besseren Zukunft

Mit 15 schliesst Yuranny die Schule ab und will an die Universität, um Recht, Psychologie oder Medizin zu studieren. Sie bittet ihren Vater um Unterstützung. Er weigert sich, sagt, sie solle sich für die Studiengebühren doch prostituieren gehen. Die Beziehung zwischen Vater und Tochter zerbricht endgültig. Yuranny versucht mit allen Mitteln, das Geld für ihr Studium zu beschaffen. Sie beantragt an verschiedenen Orten Stipendien, ohne Erfolg, obwohl sie alle Voraussetzungen erfüllt. Ihr Antrag für einen Studienkredit wird abgelehnt, weil das Einkommen ihrer Mutter im informellen Sektor nicht genug Sicherheit bietet.

Yuranny scheitert auch mit ihrer Anmeldung an einer öffentlichen Universität. Für die 80 Studienplätze bewerben sich über 9000 Studierende. Die Gebühren für eine private Universität sind unbezahlbar. Für ein einziges Semester müssten sie und Angela mehr als vier Jahre arbeiten. 2017 wird ein Jahr, in dem Yuranny nicht weiterkommt. Aber sie erhält einen Anruf vom Polytechnikum von Antioquia, einer praxisorientierten Hochschule, für eine Ausbildung in Kriminalistik. Yuranny lehnt zunächst ab, weil sie an eine Universität möchte. Aber Kriminalistik beginnt sie zu interessieren, denn sie vereint ihre Wunsch-Studienfächer Recht, Psychologie und Medizin.

Yuranny arbeitet bei ihrer Mutter mit, um das Geld für die Ausbildung zusammenzusparen. 2018 schafft sie endlich den Einstieg ins Kriminalistikstudium. Die Ersparnisse reichen fürs erste Semester. Danach hilft ein Cousin dabei, Kredite aufzunehmen, um die nächsten Semester zu bezahlen. Später muss Angela das Haus als Sicherheit geben.

Mit Pandemiebeginn und Lockdown wird die Situation immer schwieriger. Angela kann keine neuen Kredite aufnehmen. Die Schulden für das Studium addieren sich zu früheren Schulden für das Haus. Yuranny und Angela verzichten auf Essen, um die Zinsen zu bezahlen. Sie teilen das Haus und vermieten die Hälfte als Studio. So bezahlen sie den Schuldzins bei der Bank. Noch während des Lockdowns beginnt Angela, an einer Metrostation Kaffee zu verkaufen – trotz der Gefahr einer Ansteckung und den Polizeikontrollen. Yuranny hilft ihr, wenn sie kann.

Trotz des immensen, finanziellen Drucks gibt Yuranny ihren Traum vom Studium nicht auf. Sie bittet Freunde und Verwandte um Unterstützung, klopft wieder bei Institutionen und Programmen an für ein Stipendium. Von ihrer Ausbildungsstätte bekommt sie Beiträge für Essen und Transport. Angesichts ihrer prekären Lage wird sie dort an Presencia verwiesen. Kurz bevor sie ihr Studium abbrechen muss, erhält sie die rettende Zusage: Sie erfüllt alle Bedingungen für das Stipendienprogramm von Presencia. Yuranny und Angela sind überglücklich.

Seit 2020 wird sie von Presencia unterstützt, aber die finanzielle Lage bleibt angespannt. Die Miete des Studios wirft etwas Geld ab. Angela schneidet auch Haare. Doch ihr Einkommen ist nicht einmal die Hälfte des gesetzlichen Mindestlohns. Angela und Yuranny schaffen es dennoch, dass es zum Leben und zum Bezahlen der Schulden reicht. Sie werden weiterkämpfen – bis sich ihr Traum vom besseren Leben erfüllt. 

Seit mehr als 40 Jahren verbessern wir die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in Kolumbien.

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